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Ganz leise kommt die Flut
#1
Wieder unter meine Brücke. Die Depressiven Italiener im Ohr. Gleise, durch die Brombeeren gefressen. Wenig Betrieb, scheiß Baustelle im Süden. Sonne durch kahle Skelette der Straßenbäume. Bier für den Betriebsdruck. Keiner meldet sich aus den Funklochkratern. Und ich Sitz da. Würgender Ekel in jedem Atemzug. Tag 3, das Verlangen scharrt dumpf im Hintergrund. So lange hat es seit Monaten nicht aushalten müssen. 

Immer noch ihr Gesicht. Silvester. Elende Verlorenheit. D. Ist dank des 3. Suizidpfefferminz in Weltform. „Es ist nichts Neu und es ist vor allem nichts Froh und jetzt halt deine Fresse!“ „Was war das du Hurensohn? Entweder du wirst jetzt ruhig oder ich mach dich ruhig!“ Der nächste Normalo kommt unter die Räder. Ich kann D. Gerade noch von einer Bordsteinschwalbe abhalten. „Aller lass ma jetzt gut sein, es is kaum noch Feuerwerk, die Bullen können langsam wieder fahren, lass die scheiße jetzt. Komm wir gehen mal zur Randale und gucken an ob sie den John wieder angezündet haben.“ D. Ist wenig begeistert, kann dem Argument mit der drohenden Repression aber nichts entgegensetzen. So wird besagter Punkt angesteuert. Zuvor kleiner Versorgungsstop bei Hasan, die Alkoholvorräte sind merklich aufgerieben. Irgendwelche Drecksnormalos beleidigen eine Gruppe Flinta mit „Fotze“ und werden dafür mit unserem Leergut bedacht. Überraschenderweise haben die Produktiven Vogelschrecks im Arsenal, weswegen die Gang nach kurzem Vollkontakt den Rückwärtsgang einlegt, außerdem wollte Mensch ja noch vor 2 Minuten etwas kürzer treten. Kurz vorm Ziel ist D. Endgültig aufs Schnapsgleis gestellt und wühlt sich wie eine Schneepfluglokomotive durch die Gaffende Menge. Da seh ich sie stehen. Lehnt an der Ecke die ich eigentlich noch heute Nacht machen wollte. Schaut mich an wie die Katastrophe, die ich für sie darstelle. 

Sofort der Blick, der mich trifft. Scheiße. Ist es wirklich die Person die ich vermute? Ja kein, Zweifel. Fuck, sie steht direkt vor Don Luminoso, der mich jetzt auch mit angstverzerrtem Gesicht anstarrt. Scheiße. Adrenalin verseucht meinen Kopf. Ich rufe noch eine Weile nach D., der kann mich aber nicht mehr hören und pflügt weiter durch Menschen, fest verkeilt auf seinem Gleis. Also harter Abbruch. Alarm. Fluten. Auf 60 Meter gehen. Bloß schnell weg. Natürlich muss ich eine direkte Kehrtwende machen, peinlich aber die Situation brennt sowieso schon, was interessiert es mich. 

Scham. Endlose Scham. Das es so ist wie es ist. Dass es nicht mehr bei mir ist. Dass es jetzt mit ihm ein Licht hat. Und das ich durch die Dunkelheit schleiche. Scham dass ich es nicht vor mir und meiner Sucht schützen konnte. Scham dass ich da bin. Scham dass ich da sein werde. Nichts als Dumfer Ekel in jedem Atemzug. Weglaufen. Beide Maschinen Ak. Weg. Weg. WEG. 

Seither sogar ein bisschen Scham meiner Sucht zu erliegen. Einfach keinen Bock mehr. 3 Tage schon. Habe ich vorher schon geschafft. War mein Hauptrythmus. 3 saubere Tage. 1 Tag Absturz. 3 saubere Tage. 1 Tag Absturz. 3 saubere Tage. 2 Tage Selbstbetrug. 3 saubere Tage. 4 Tage Verzweiflung. Immer so weiter. Manchmal die Pausen länger gestreckt oder zu ewig langen Entgleisungen zerfallen. Immer die Schlacht um den Sinn schlagend. Gerade deswegen bin ich überrascht, dass mich das Gedonner noch nicht so schneidend erreicht hat. Es wird passieren, darauf kannst du eigentlich nur noch warten. Warten auf das nächste mal, dass die Schwäche durch den Kopf zischt. 

Der erste IC seit Monaten, der hier vorbei fährt. N-Wagen sogar. Die Italiener Schreien die Stelle mit „Tretoria“ oder wie das heißen soll. Die Sonne verschwindet hinter ein paar Wolken. Bitte lass mich wenigstens Tag 3 durchhalten.
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#2
5. Tag. 4 Uhr morgens. Bleischwere Glieder. Kopf ausgestopft. Der Naschkonsum fordert seinen allnächtlichen Tribut. Wahrscheinlich von der Kälte geweckt. Draußen Sturm und Nässe. Denkbar ungünstigste Zeit wach zu werden. Noch während ich versuche die körperlichen Schmerzen im Kopf zwecks Aushaltung zu sortieren merke ich, wie das Verlangen durch meinen Körper wabert. Wie sich mein Becken mit unerbittlicher Willkür rhythmisch in die Matratze drückt. Wirklich ungünstigster Zeitpunkt zum aufwachen.

Gequältes Aufseufzen. Ich will jetzt wirklich nicht kämpfen. Jetzt gerade habe ich wirklich einfach keine Kapazitäten für eine Auseinandersetzung mit der Sucht. Aber die hat das Gefecht schon längst aufgenommen. Schon merke ich, wie die Ausreden an meinem Verstand zu lecken beginnen wie Flammen an trockenem Holz. 4 Saubere Tage. 4 ganze Tage schon. Schon vor dem letzten großen Absturz verdammt lang. Genug allemal, um die körperliche Lustlosigkeit zu überwinden. Das ist ja meist schon nach 2 Tagen der Fall. Wenngleich mich mein „traumatisches“ Neujahrserlebnis bisher ganz gut vor wirklich ernsthaften Erektionen bewahrt hat. Aber hier meldet sich nicht einfach die blanke Geilheit, nein hier habe ich es mit der Gewohnheit zu tun, welche jetzt langsam mal wieder ihr Dopamin braucht. Die Gewohnheit wird geschlagen wo sie steht. Noch. Langsam werde ich wach genug um wahnsinnig zu werden. Es heißt handeln. Ich will aber nicht handeln.

Rausgehen und randalieren fällt weg. Windböen um die 26km/h, Regen, kannste auch gleich mit der Wasserflasche losgehen. Außerdem schon fast halb 5. das beste Zeitfenster ist schon vorrüber. Schlau ist sie, die Gewohnheit. Listiger als die Geilheit. Subversiver, durchdachter, vielleicht sogar etwas schamvoller, was es alles im wesentlichen nur noch schlimmer macht. Kalt duschen? Als hätte ich einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen drücke ich selbigen ins Kissen. Wirklich keinen Bock gerade. Keinen Bock auf Kämpfen. Kein Bock auf Aufstehen. Keinen Bock auf denken, vor allem nicht auf Entscheidungen treffen. Herrje, warum gerade Nachts genau an der Grenze zwischen zu spät und zu früh? Einfach keinen Bock, das Leben an sich zu akzeptieren und es tu führen. Business as usual.

Mal wieder die App öffnen. Weiß gar nicht mehr, wann ich mir das das letzte mal getraut habe. Muss vor dem letzten Absturz gewesen sein. Startbildschirm. Passwortabfrage Homescreen. Huch. Letzter Check in vor 68 Tagen. Das ist natürlich mehr als erwartet. 68 Tage ohne Widerstand. 68 Tage Kontrollverlust. Reihen sich ein in eine Endlose Liste. Jetzt sind sie noch der letzte Absturz. Bald werden sie nur Einer unter vielen sein. Jeglicher Besonderheit beraubt von einem schier übermächtigen Rhythmus aus Verlangen und Befriedigung. Der keinen Kampf braucht. Keine Beherrschung, keinen Willen kein nichts. Saubere Tage sind Klammern, sind ankämpfen und ausweichen. Schmutzige Tage sind Treiben. Und ich treibe doch eigentlich so gern.

Hilft jetzt alles nichts, durchwandern wir noch mal das Tal der Tränen, der seit 68 Tagen graue Kalender will mit roten Punkten ausgestattet werden. Ein Tipp, grüner Punkt für einen sauberen Tag. 2 mal Tippen roter Punkt für einen schmutzigen Tag. Tipp-Tipp. Roter Punkt. Tipp-Tipp. Roter Punkt. Das beschissenste Weihnachten versinkt im Rot. Davor der ganze Dezember. Der November auch. Alles Treiben. Alles Verloren. Zeit, in der die Gewohnheit sich fettfressen konnte. Zeit, in der die Gräben im Kopf tiefer ausgehoben wurden. Gleisbetten tief in Gedanken hineingefressen. Der ganze Oktober ein großes Rotes Feld der Schande. Und ganz am Ende meine 4 mickrigen grünen Punkte. 4 Siege, die noch vor einer Woche undenkbar gewesen wären. Durch den kalten Blick der Statistik zur absoluten Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft. Siege fühlen sich nicht wie Siege an, wenn sie direkt neben solch vernichtenden Niederlagen stehen.

Diesmal nicht. Dieses Mal werd ich nicht von meinem Verlangen gekillt. Die Niedergeschlagenheit vom Tags eintragen ist in Trotz umgewandelt. Trotz ist gut. Trotz ist sozusagen eine meiner Kernkompetenzen. Jetzt kann die Gewohnheit sich auf einen schönen Stellungskrieg einstellen, ist der Trotz einmal da gräbt er tief und fest in die Gedanken. Ich liege noch eine Weile im Dunkeln. Sehe meiner Gewohnheit zu, wie die sich mit meinem Trotz im Schlamm wälzt. Ich will jetzt. Ich will nicht. Ich will jetzt. Ich will aber auch nicht. Ich will jetzt, nein ich will es eben nicht. Ich will jetzt aber wirklich, nein will ich eben nicht, nicht wieder dieses Schwäche! Aber die Schwäche ist doch so schnell vorbei. Aber die Schande nicht! Die Schande ist doch schon immer da gewesen. Ich will jetzt. Nein will ich nicht. Was will ich eigentlich? Abstürzen oder weiter dagegenhalten? Ist eigentlich egal. Ich will beides. Und dieses beides wird jetzt solange kämpfen, bis ich kraftlos in den Schlaf zurück Sacke. Immer bis es nicht mehr geht. Sozusagen mein Lebensmotto.

Kann Auf Dauer geht das nicht gut, denke ich. Der Wind hat sich gelegt, draußen Parken die ersten Werktätigen und schleichen in ihre Löcher. Ich schließe die Augen und sehe mir beim zerfallen zu.
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